Die individuelle Musiksprache und die ausgeklügelten Improvisationsmodelle des Klarinettisten und Saxophonisten Michael Riessler sind zwar nicht leicht zu konsumieren – aber ungeheuer spannend und mitreißend. So funktioniert die Dynamik dieses Albums nach dem Prinzip der Drehorgel: Entweder ist ein Ton da oder nicht. Deshalb gibt es nur eine Lautstärke: forte. Ein entfesselter Schlagzeuger peitscht das Michael Riessler: Big Circle weiterlesen
Kerberbrothers Alpenfusion: Rising Alps
Aufruhr im Land der lila Kühe: Eine Volksmusikcombo beackert lustvoll die Musikwelt jenseits krachlederner Bierzeltzünftelei. Da wird kräftig zusammengerührt, was man freiwillig nicht zusammen denken mag: romantische Alphornidylle, ein swingender J.S.Bach, gezitherte Ländlerseligkeit, südamerikanische Rhythmen, ein Hackbrett, das sich als Orientale ausgibt, und Jodeln wie in Texas – nur eben authentisch deutsch und das alles immer schön vereint unter dem Mäntelchen von teils Kerberbrothers Alpenfusion: Rising Alps weiterlesen
Mark Wyand: I’m Old Fashioned
Content/Edel Mit seinem vierten Album schleicht sich der britische Saxofonist Mark Wyand geradezu samtpfotig an seine Hörer heran: Fein, leicht und geschmeidig interpretiert er Jazzklassiker – angereichert mit reichlich Gegenwart und Popeinflüssen. In den ruhigen, fast überirdisch schwebenden Arrangements setzt er Kontrapunkte zum quirligen Alltag im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg, wo er seine Inspiration findet. Sängerin Ofri Brin und vier Instrumentalisten fügen sich fast symbiotisch Mark Wyand: I’m Old Fashioned weiterlesen
Jens Thomas und Verneri Pohjola: Speed Of Grace – A Tribute To AC/DC
AC/DC haben im Leben pubertierender Männer schon lange einen Ehrenplatz. Es geht um martialische Posen, schlichte Gitarrenriffs, Suff und vor allem: Lärm. Die meisten haben diese Phase mit 17 Jahren überwunden (gewisse Ex-Minister ausgenommen). Für einen Jazzmusiker aber sind die Songs der australischen Brachialrocker etwa so spannend wie der Mond für Floristen. Der Pianist und Sänger Jens Thomas wagt den Versuch und dreht die AC/DC-Songs einfach um: Aus schnell wird Jens Thomas und Verneri Pohjola: Speed Of Grace – A Tribute To AC/DC weiterlesen
Rez Abbasi’s Invocation: Suno Suno
Der pakistanische Gitarrist Rez Abbasi geht mit diesem Album zu seinen Wurzeln zurück.
Dabei schöpft er aus der pakistanisch-indischen Qawwali-Musik, mixt Blues und Gospel dazu, ziseliert mit feinem Gespür Jazziges hinein. Vermeintlich Traditionelles geht subtil in Modernes über – fein verwoben, spielerisch, energiegeladen, vibrierend. Abbasis Kompositionen kommen vor allem auch durch seine brillanten Mitstreiter zur Geltung, darunter Rudresh Mahanthappa (Altsaxofon) und Johannes Weidenmüller (Bass). Sie machen nachvollziehbar, was Qawwali auch ist: spirituelle Musik, mit der sich islamische Sufis in Ekstase versetzen. Das prägt dieses aufregende, geheimnisvolle musikalische Jazzabenteuer. Suno ist in Urdu übrigens die Aufforderung zuzuhören: Hier lohnt es sich auf jeden Fall. Deshalb: Suno Suno!
Sabine Meinert (15.1.2012)
Label: Enja
Track „Nusrat“ (Youtube)
Inge Brandenburg: Sing, Inge sing
Inge Brandenburg war lange aus dem kollektiven Bewusstsein der deutschen Musikszene verschwunden: Und das obwohl sie 1960 zur besten Jazzsängerin Europas gekürt wurde. Jetzt kam ein Dokumentarfilm über das tragische Leben der reichlich komplizierten Diva, die 1999 unter Sozialhilfebedingungen verstarb, in die Kinos. Dazu erschien eine Doppel-CD. Sie präsentiert einen repräsentativen Querschnitt durch das musikalische Schaffen der in Leipzig geborenen Ausnahmekünstlerin. Fantastisch – kann man da nur jubeln: Von Jazzstandards („All of me“) bis zu Chansons („Je ne regriette rien“) sind hier fast nur Musikperlen versammelt. Viele Aufnahmen dieses exzellenten Albums brauchen keinen Vergleich zu Einspielungen von US-Stars wie Anita O'Day bis Peggy Lee zu scheuen.
Willy Theobald (8.1.2012)
Marc Perrenoud Trio: Two Lost Churches
Die drei jungen Schweizer mögen Gegensätze, Überraschungen, Entlegenes. Sie beherrschen die große Geste ebenso wie subtile Andeutungen. Präludierend, mit raumgreifenden Akkordbrechungen beginnt das Album, wechselt in swingenden Barjazz, haut stadionrockmäßig gewaltig auf die Tonne, um nach einer Vollbremsumg in Zeitlupe subtilste Melodie- und Harmonieverschiebungen auszuprobieren. Diese Musik ist ohne Bombastrocker wie Led Zeppelin oder Queen ebenso undenkbar wie ohne Oscar Peterson, Beethoven oder Bach. Dabei sind der Klang und die Herangehensweise des Trios alles andere als beliebig. Man höre und bestaune wie die Drei sich etwa „Autumn Leaves“ aneignen, wie sie den reichlich abgenudelten Joseph-Kosma-Song in etwas ganz und gar Unerhörtes verwandeln.
Sven Sorgenfrey (2.1.2012)
Marc Perrenoud Trio beim Schaffhausener Jazz Festival 2012 (Video)
Branford Marsalis & Joe Calderazzo: Songs Of Mirth And Melancholy
Ausgerechnet beim Promigolfen beschlossen Saxofonist Branford Marsalis und Joey Calderazzo, Kenny Kirklands Nachfolger in Marsalis' Quartet, es auch als Duo zu versuchen. Herausgekommen ist dabei eine Art Panoptikum disparater Kabinettstücke. Erst gibt Pianist Calderazzo die Ragtime-Maschine – „and now for something completely different“: Die beiden ergehen sich in einer klassisch-romantischen Walzerballade. Blende. Close-up auf ein sperrig-minimalistisches Kompositionsexerzizium. Cut! Hier ist mal ein auf Postbop gefönter Barjazz mit kontrapunktischen Einsprengseln. Und huch! fällt das Bahms-Lied „Die Trauernde“ vom Himmel. Bei allem Spaß an Perfektion: Man hat den Eindruck, die beiden könnten fast alles, müssten aber aus innerem Drang gar nichts, und so bleibt die Musik steril. Sven Sorgenfrey (24.7.2011)
Blue Touch Paper: Stand Well Back
Zwei Jahre brauchte Colin Towns für Komposition und Aufnahmen dieser CD. Das Ergebnis ist aber alles andere als herzlos intellektuell, sondern ein kraftvoller Fusionjazz, anzusiedeln grob in der Nachfolge der Gebrüder Brecker und Verwandten. Eine druckvolle Rhythmusgruppe mit Benny Greb am Schlagzeug treibt die Musik. Synthies sorgen für eine atmosphärische Einordnung, und ja, es erklingen singende Stromgitarren. Towns setzt oft auf sich wiederholende Motive, die – mal kunstvoll verwoben, mal anarchisch überlagert – die Basis für elegische oder klamaukig-freie Improvisationen bilden. Die Stücke stehen nicht zufällig nebeneinander, sondern sind durch anspielungsreiche Überleitungen verbunden. Das macht auch beim analytischen Hören Spaß – und man möchte die Band dringend live hören. Sven Sorgenfrey (29.5.2011)
Label: Provocateur
John Scofield: A Moment’s Peace
15 Jahre nach dem unverstärkt eingespielten Album „Quiet“ legt der Apologet des „Loud Jazz“ wieder ein Werk mit eher besinnlichen Stücken vor. Statt eines Bläserensembles wählt er diesmal seine Stromgitarre und die klassische Quartettbesetzung mit Larry Goldings an Klavier und Schweineorgel. Neben fünf eigenen Stücken macht sich Sco an Evergreens wie „I Loves You Porgy“ oder „I Will“ von den Beatles. Das ist nicht ganz ohne Risiko, denn es gilt, den sattsam bekannten Stücken neues Leben einzuhauchen. Das aber gelingt dem Meister durchweg bravourös. In „I Want to Talk about You“ präsentiert er die Essenz seiner Improvisationskunst, „Gee, Baby, Ain’t I Good to You“ kredenzt er als Destillat des bluesigen Jazz – näher hat er sich kaum je öffentlich an sein Idol B.B. King herangerobbt. Sven Sorgenfrey (22.5.2011)
Label: Emarcy/Universal
Weitere CD-Tipps zu John Scofield:
John Scofield: 54
John Scofield: Piety Street
Dieter Ilg Trio: Otello live at Schloss Elmau
Irgendwann reichte es Dieter Ilg nicht mehr, einfach nur einer der besten Bassisten dieses Planeten zu sein. Ein Projekt musste her, das tief aus dem Herzen kommt und einfach alles beinhaltet. In der Oper „Otello“ fand Verdi-Fan Ilg den Stoff, aus dem er sein Experiment speisen konnte. Denn einige Harmonien in Verdis Musik, ihre Dramatik und ihr ständiges Variieren bieten hervorragende Anknüpfungspunkte für eine Neuinterpretation aus der Sicht eines Jazzers. Mit Rainer Böhm (Klavier) und Patrice Héral (Schlagzeug) startete Ilg seinen Othello als Studioprojekt. Nun – nach zwei Jahren Konzerten mit der Adaption, gibt es eine Liveversion. Die Stücke haben abermals gewonnen: Ungeheuer dicht ist das Zusammenspiel, in jedem Moment gibt es Neues zu erlauschen – nicht nur für Kenner der Verdi-Oper. Sven Sorgenfrey (27.11.2011)
Label: ACT
Jeff Lorber Fusion: Galaxy
Dieses Album ist eine Zeitmaschine: Rein damit in den CD-Player, den Verstärker aufdrehen und zack: willkommen in den 80ern. Seinerzeit gehörte Jeff Lorber zu den Erfindern eines entspannten, funkigen Jazz. Keyboard, Gitarre und Bläser breiten mehrschichtig wiedererkennbare Melodien aus, schlenzen eckige Breaks, halsbrecherische Unisonoläufe und eingängige Improvisationen, die – in selten mehr als Popsonglänge – zügig eine Klimax erreichen. Orthodoxe Jazzspezialisten rümpfen die Nase angesichts dieser widerstandslos konsumierbaren Musik. Die größte Errungenschaft des Jeff-Lorber-Stils aber ist: Spaß! Also, Lautstärkeregler nach oben, Hände und Mundwinkel ebenfalls – und dann mit den Hüften die Eierrollbewegung der Graugans imitieren! Ein prima Gegengift gegen die Winterdepression. Sven Sorgenfrey (20.11.2011)
Label: Heads Up
Nigel Kennedy: The Four Elements
Der Geiger mit der lustigen Frisur hat eine Art Konzeptalbum eingespielt. Darin rührt er Stereotypen von allerlei Genres zusammen. Da hummelflugt, kreislerkadenzt, rocktrommelt, chineselt, countryfiedelt und discopopsingt es lustig durcheinander. Als roter Faden dient oft eine Begleitfigur, die er stoisch totreitet. Darüber werden kaum entwickelte Melodiebrocken gelegt und gelegentlich mit Improvisiertem aufgelockert. Wenn er den Verzerrer antritt, spielt er jeden Rockgitarristen an die Wand: wahnwitzig schnelle Läufe, jaulende Glissandi, bratende Quinten. Ob dieser Budenzauber ausreicht, Gähnkrämpfe abzuwehren, muss jeder Hörer selbst ausloten. Mit seiner Punkattitüde hat Kennedy einst die greisen Eisenten in ihren Konzerthallen verschreckt – heute wirkt das allenfalls noch bemüht. Sven Sorgenfrey (9.10.2011)
Label: Sony Nu Classic
Popa Chubby: Back to New York City
Ein Mann wie eine Dampfwalze! Filigrane Zwischentöne sind seine Sache nicht. Mit seiner Stromgitarre, die so aussieht, als hätte Popa Chubby mit ihr schon manchen Dinosaurier erschlagen, brät er entschlossen alles an die Wand, was sonst noch in Sachen Bluesrock unterwegs ist. Das Vokabular des klassischen Blues beherrscht er ebenso souverän wie das martialische Werkzeug des Heavy-Metal-Gitarristen. Denn der Mann aus der Bronx legt gern eine Gangart härter ein – die Nummern heißen dann „Warrior God“ oder ähnlich und hören sich auch genau so an. Mögen sich die Bewahrer der reinen Lehre auch bekreuzigen – wenn Chubby Balladen zelebriert, dann kommt das so testosterongeladen-sentimental rüber, dass selbst die härtesten Jungs hemmungslos in ihre Lederkutten heulen. Sven Sorgenfrey (25.9.2011)
Label: Mascot/Rough Trade
Lizzy Loeb: The One
Ihre Stimme ist weich und mehr für die Kammer als für die Halle gemacht. Man glaubt sie schon immer gekannt zu haben. Deshalb hört man Lizzy Loeb gern zu, wenn sie von Herzeleid und -freud singt. Ihre Lieder sind unendlich weit entfernt von den „Teenage-Angst“-Formeln anderer Popsongs. Die Frau hat schon am Leben teilgenommen. Ihre sprachlichen Bilder sind so präzise wie ihre Musik. Und die braucht nicht mehr als ihre Stimme und ihre Gitarre. Die anderen Instrumente sind nett, aber Beiwerk. Da sie einem Jazzerhaushalt entstammt, steht ihr ein reicher musikalischer Werkzeugkoffer zur Verfügung. Unfehlbar vermeidet sie jedes Klischee und hat einen unverkennbar persönlichen Stil – den zu entwickeln andere Jahrzehnte brauchen würden. Ein selten perfektes Erstlingsalbum. Sven Sorgenfrey (18.9.2011)
Label: C.A.R.E/Edel Kultur