Der Mann hat Nerven! In einer Zeit, in der Jazzkonzerte immer seltener und dann gerne mal von Trios oder singenden Bassistinnen bestritten werden, damit die Vortragenden noch auf ihre Kosten kommen, in so einer Zeit tritt Roy Hargrove mit einer 19-köpfigen Big Band an. Mit Standards und neuen Songs zeigt er, wozu ein wohlsortierter Haufen Blech imstande ist: klotzige Akkordblöcke, jäh anschwellende Klänge, rumpelnde groovige Ostinati und darüber präzise hingetupftes, dräuendes Heulen und blitzehelle Fanfaren, plötzliche Breaks und Wechsel ins Kammermusikalische. Hargrove zitiert sich als Bandleader unbeschwert durch seine Vorbilder und erweist seinem Förderer, Wynton Marsalis, nicht zuletzt damit seine Reverenz, dass er sich als Solist bescheiden im Hintergrund hält. Sven Sorgenfrey (18.8.2009)
Alles, was August-Wilhelm Scheer anpackt, tut er mit dem Ehrgeiz, in der ersten Liga zu spielen: als Gründerchef von IDS Scheer, als Professor für Wirtschaftsinformatik, als Bitkom-Präsident – und als Baritonsaxofonist. Deshalb spielt der Hobbyjazzer nur mit Profis, so auch bei Groovin' High, sozusagen der Hausband von IDS. Bandleader ist der Schlagzeuger Oliver Strauch und Zugpferd der Flügelhornist Randy Brecker. Die ungeheure Anspannung des Laien unter Profis ist Scheers Soli jedoch kaum anzumerken. Verstärkt durch Bass, Piano und Tenorsaxofon spielen sie einen wunderbar groovenden und geradlinigen Postbop – einige wenige Eigenkompositionen und das Real Book rauf und runter. Vielleicht überlässt Scheer IDS jetzt anderen, um noch intensiver an seinen Soli feilen zu können. Sven Sorgenfrey (20.7.2009)
Mit dem dritten Trio-Album präsentiert sich der Belgier Eric Legnini als ausgesprochen kompletter Pianist. Mühelos wechselt er vom erdnusskompatiblen Kammerjazz zu Blues, Soul, Drum 'n' Bass und allerlei dazwischen. Verspielt geht er seinen Ideen nach, nie verschwurbelt, nie pianistisch-angeberisch, sondern neugierig, souverän, reduziert und musikalisch überaus erfahren. Sein Ton ist ebenso trocken und präsent wie der seiner ungeheuerlich groovenden Kollegen, Franck Agulhon (Schlagzeug) und Mathias Allamane (Kontrabass). Richtig knackig wird es, wenn Legnini sein Fender-Rhodes-Piano auspackt: Da gibt es eingängige Refrains, fette Basslinien, und Agulhon trommelt Band wie Zuhörer in Trance. Das geht sofort in die Beine, ohne im Mindesten den musikalischen Verstand zu beleidigen. Sven Sorgenfrey (6.7.2009)
Der niederländische Altsaxofonist Bart Wirtz strebt mit diesem Album heraus aus dem europäischen Reservat der improvisierten Musik. Seine Kompositionen sind eigenwillig, seine Melodien oft lakonisch. Seine Improvisationen loten das musikalische Material gründlich aus, geraten dabei aber nie langatmig, selbstverliebt-verknöselt oder elegisch-glatt. Im Gegenteil: Fest im Hardbop verwurzelt und offen für andere Einflüsse und Spielarten des Jazz fleddert er nach Lust und Laune den Pantheon seiner musikalischen Vorbilder. Statt aber in Verehrung zu verharren, bedient er sich souverän ihres Vokabulars, persifliert sie, ohne sie bloßzustellen, und entwickelt so lustvoll einen ganz persönlichen und unverwechselbaren Stil. Es ist gleichermaßen genuss- und lehrreich, ihm dabei zuzuhören. Sven Sorgenfrey (28.6.2009)
Wenn sich ein mit Berklee-Weihen versehener Latin-Jazz-Pianist allein ans Klavier setzt, entsteht eine gewisse Erwartungshaltung. Die enttäuscht Torkler jedoch gern und gründlich. Was der Mann hier spielt, hat mit Samba so viel zu tun wie Kuba mit Vorpommern: In Zeitlupe entringt er einfachsten Melodien erwartbare Harmonien, grübelt auf minimalem musikalischen Material herum, ohne erkennbare Fortschritte zu erzielen. Das atmet den Weltschmerz eines Pubertierenden aus, der nach einer Überdosis Eichendorff die Trauer über den Tod von Nscho-tschi in Winnetou I tagelang am Fortepiano zu sublimieren versucht. Man wünscht ihm eine wie Betty von den Peanuts aufs Klavier – die zumindest den Versuch unternimmt, ihren Schröder der verknöselten deutschen Pianistenwelt zu entreißen. Sven Sorgenfrey (21.6.2009)
Er ist der Shootingstar unter den kubanischen Musik-Youngstern. Mit seinem letzten Album gelang Roberto Fonseca der Sprung aus der Schattenexistenz eines Sideman zum Solisten. Nun setzt er seinen Weg mit alten Gefährten und Gästen konsequent fort. Das Ergebnis ist beileibe keine gefällige Erzeugerabfüllung von Bacardi-seligem Latin Jazz. Fonseca webt die genretypisch changierenden rhythmischen Gewebe aus Klavier und Latinoschlagwerk elegant in die Arrangements. Besondere Qualitäten bezieht seine Musik aus ihrer erzählerischen Kraft: Mit raffinierten Kompositionen inszeniert Fonseca aus scheinbar harmlosen Melodien effektvolle Dramen, in denen sich karibische Leichtigkeit und Melancholie zu einer sehr eigenen emotional aufgeladenen Kunstmusik verdichten. Sven Sorgenfrey (7.6.2009)
Mit seinen 56 Jahren gilt Tenorsaxophonist Joe Lovano schon als Elder Statesman des Jazz. Und das in erster Linie deshalb, weil er seinen Stil stets innerhalb des Genres weiterentwickelt hat – unangekränkelt von den Versuchungen elektropoppiger Exkursionen. Us Five heißt sein jüngstes Projekt, in dem er sich Inspiration holt von vier jüngeren Musikern: einem Pianisten, einem Bassisten und zwei Schlagzeugern, deren Temperamente sich prima ergänzen. Lovano rückt seinen Eigenkompositionen mit Tenor- und Altsaxophon zu Leibe und bedient sich zudem einer Altklarinette sowie des exotischen Taragots und eines mehrstimmigen Aulochroms. In den Stücken wechselt er gern die Besetzung von Duo bis Quintett und legt eine Spiel- und Experimentierfreude vor, die seine Band ebenso ansteckt wie die Zuhörer. Sven Sorgenfrey (18.5.2009)
Auf den Spuren seiner familiären und musikalischen Wurzeln hat der Bassist Avishai Cohen schon mit seinem Trio unbefangen manche Genregrenze überschritten. Mit seinem neuen Album bricht der hemmungslose Melodiker vollends zu neuen Ufern auf: Er singt! Mal nur von seinem Bass begleitet, mal unterstützt von seinem Stammpianisten Shai Maestro, einem Perkussionisten und einem Oud-Spieler. Als zweite Stimme gesellt sich Karen Malka hinzu. Sie singen eigene und traditionelle Lieder in Hebräisch, Englisch oder Ladino. Diese zwölf Versuche, aus Klassik, Orientalischem, Klezmeranklängen und – ach ja – Jazz etwas Neues anzumischen, driften schon mal in belangloses Pop-Lalala oder knorke Ethnomucke ab. Meistens aber gelingt das Vorhaben fulminant und ergreifend. Sven Sorgenfrey (4.5.2009)
Schluss mit lustig! Jetzt geht es ums Seelenheil. Wer je eines seiner Solointros gehört hat, weiß, wie tief John Scofields Musik im Blues verwurzelt ist. Um nicht ganz in die schon fast gerontophile Liga von Eric Clapton abzurutschen, behilft sich Scofield mit Gospel, dem dicken Nennonkel des Blues. Dazu hat er sich selbst bei einer New-Orleans-Band eingeladen, mit der er Gospelklassiker und zwei eigene Stücke spielt. Die Soli verraten schon im Sound seine Verehrung für B. B. King. Aus seinen Uberfunk-Zeiten hat sich ein Hang zu funkigen Grooves erhalten. Das passt überraschend gut zusammen, macht gute Laune und Lust auf live. Nach dem Dixie-Country-Stück "I'll Fly Away" bleiben Sco für das nächste Album aber nur zwei Alternativen: die Steelguitar oder das Mikrofon. "Halleluja!" Sven Sorgenfrey (23.3.2009)
So vertrackt, wie der Titel vorgibt, ist der Inhalt nicht. Denn die verschollen geglaubten Quastenflosser der deutschen Rockavantgarde pflegen hingebungsvoll ihr Gesinnungsbiotop: Sie halten sich an ihr bewährtes Rezept und schichten munter einfache Phrasen und Patterns übereinander, mischen noch einige Wörter dazu und vertrauen darauf, dass das Publikum darin Neues hört. Denn darum geht es Faust immer noch: Zuhören! Bedeutung!! In den zu Songs geronnenen Kettensägenmassakern brechen sie schon mal mit Tabus, die keine mehr sind; Lautstärke suggeriert Bedeutung, Lärm noch mehr Bedeutung. Dabei klauen Klangkonserven den Musikhelden die Wirkung. Live transportiert sich ihre manische Energie viel besser – wenn Jean-Hervé und Zappi vielleicht sogar nackt auf die Bühne springen. Sven Sorgenfrey (2.3.2009)
„Schifferklavier“, „Quetschkommode“, „Riemenorgel“ – Akkordeonspieler, die sich auf der Hafenpromenade nicht zu Hause fühlen, können meist nur in Tangokaschemmen ausweichen. Es sei denn, sie sind Österreicher und haben schon qua Geburt einen Anspruch auf musikalisches Genie. Klaus Paier ist so einer: Auf seinem Instrument entwickelt er ein ungewöhnlich nuancenreiches, scharf phrasiertes Spiel. Beim „Radio String Quartet“ lernte er Asja Valcic kennen, die als Cellistin nach Ausdrucksformen jenseits von Boccherini und Dvorak suchte. Valcics dunkler, virtuos kultivierter Furor und Paiers musikalisches Kalkül und Herzblut ergänzen sich. Im Duo gelingen ihnen mitreißend arrangierte Grenzgänge zwischen Jazz, Klassik, Musette, Osteuropäischem und – unvermeidlich – Tango. Sven Sorgenfrey (18.1.2009)
Rastlos unterwegs in einer Endlosschleife von Konzerten überall auf der Welt globalisiert der Schweizer Trompeter und Elektrojazzer Erik Truffaz seine Schallplattenproduktion: Die vorliegende Drei-CD-Box bündelt drei Projekte aus drei Städten dreier Kontinente. Erste Station, Paris: belanglos-harmloser Simpelpopjazz mit Sly „Ich-kann-eine-Beatbox-imitieren-wie-Bobby-McFerrin“ Johnson. Zweite Station, Mexiko-Stadt: Bei den minimalistischen Ambient-Spielereien mit dem Elektro-Musiker Murcof entwickelt Truffaz aus wenigen Keimzellen imposante musikalische Gebilde.
Dritte Station, Benares: Der mit traditionellen indischen Elementen angereicherte Jazz (zusammen mit Malcolm Braff, Indrani und Apurba Mukherjee) ist zwar nicht neu, aber das spannendste Projekt dieser Box. Sven Sorgenfrey (5.1.2009)
Man kann Jan Garbarek nicht allein für die Musik seiner Landsleute verantwortlich machen. Es muss auch an Norwegen selbst liegen: Die karge Landschaft, dunkle Winter, fiese Trolle – all das scheint eingeflossen zu sein in Eicks düsteres Erstlingswerk. Dessen Stimmung ist so abgrundtief traurig, dass man sie ohne Einnahme von Antidepressiva lieber nicht hören sollte. Das Tempo der Stücke variiert zwischen langsam und extrem langsam. Mit strenger Verpflichtung auf gepflegten Wohlklang trägt Eick auf seiner Trompete elegische Melodien mit hohem Mitsummfaktor vor. Jon Balke mischt am Klavier atmosphärische Tupfer bei. Während beide sich in schönen Klangwelten ergehen, kämpfen Bass und Schlagzeug engagiert, aber vergeblich um ein wenig Drive. Sven Sorgenfrey (31.07.2008)
Der 24-jährige Ziegenbarthipster David Helbock aus der österreichischen Provinz hat sich mit zwei Landsleuten aufgemacht, in der Königsdisziplin „Klaviertrio“ mal eben eigene Pflöcke einzuschlagen. Aus Geräuschfetzen schälen sich Muster, Rhythmen, Klänge, Phrasen; es finden sich Akkorde, eine Tonart wird etabliert, Melodien entstehen, da bricht das Gebilde wieder auseinander, bevor man es sich in dem gewonnenen Terrain gemütlich einrichten kann. Von seltener Souveränität ist die Art, wie Schlagzeug und Bass das Klavier mal unterstützen, mal ihm zuwiderlaufen. Diese Musik ist virtuos intellektuell und emotional im musikalischen Duktus. Das Parodistische dient hier als Grundmaterial, aus dem Eigenes entsteht, das oft ironisch daherkommt und keine Groteske, keinen musikalischen Witz verschmäht. Sven Sorgenfrey
Tipps und Kritisches zu CDs, Konzerten, Büchern und Musikern aus der Welt des Jazz
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