Alle Beiträge von Sven Sorgenfrey

Henry Threadgill: This Brings Us to (Volume II)

ThreadgillThisBringsUsToVol2Jazz für Fortgeschrittene: Mit seinen 66 Jahren lässt sich Henry Threadgill nicht mehr rumschubsen. Der Knochenmühle der Endloskette von Tourneen und Alben kann er sich endlich entziehen. Aber altersmilde ist er darüber nicht geworden. Mit dem aktuellen Longplayer geht er seinen Weg konsequent weiter. Er vereint serielle Konzepte neutönender Komponisten wie Arnold Schönberg mit mehrschichtigen afrokubanischen Rhythmen und der afroamerikanischen Blues-, Soul- und Jazztradition. Als Klangkörper dient ihm seine seit Jahren aufeinander eingespielte Band Zooid, in der er selbst Altsaxofon und Flöte spielt. So wenig eingängig die Musik ist, so stark fesselt sie den Geist sofort – und das Herz beim dritten Hören. Es lohnt sich, die Einstiegshürde zu dieser CD mutig zu überwinden. Sven Sorgenfrey (12.12.2010)

Label: PI Recordings

Toots Thielemans: European Quartet Live

Toots Thielemans - European Quartet LiveEr hat die Mundharmonika vom Klischee des Kinderspielzeugs und der Bluessirene, aber auch vom Stigma des Matrosenidylls befreit – und zu einem ernst zu nehmenden Instrument gemacht. Zumindest, wenn er sie selbst spielt. Es gibt heute so gut wie keinen Jazzmundharmonikaspieler, der sich nicht auf ihn beruft. Er hat mit den Gründerfiguren des Jazz gearbeitet, und was er macht, ist ganz die alte Schule: Mit klarem Ton und großer Spielfreude zelebriert er die Stücke, inszeniert aus den Gershwin-Klassikern „I Loves You Porgy“ und „Summertime“ ein spannendes Hörspiel. Wer je erlebt hat, wie Betty Carter „My Favourite Things“ dramatisierte, weiß, was ich meine. Mit dieser Eleganz und Präsenz geht das nur live. Großen Anteil an der Dynamik des Konzerts hat der kongeniale Schlagzeuger Hans van Oosterhout. Sven Sorgenfrey (5.12.2010)

Label: Challenge

Marc Ribot: Silent Movies

MarcRibotSilentMoviesWer bei diesem Album den atonalen, hochvirtuosen Experimentalimprovisationszauberer erwartet, wird überrascht. Ausnahmemusiker Marc Ribot besinnt sich hier auf seine Wurzeln als klassischer Gitarrist mit Stücken, die Filmmusik sind oder sein könnten. Diese konzeptionelle Klammer gibt praktisch ein konzentriertes Hören mit geschlossenen Augen vor: Jeder kann zu Ribots magisch-suggestiver Musik im Filmfundus der Erinnerung stöbern oder sich eigene Szenen ausdenken. Es sind ruhige Stücke, die ohne Brüche und Stimmungswechsel auskommen, meditative Kammermusik, deren Duktus auch etwas Bekenntnishaftes hat. Bei aller technischen Finesse verzichtet Ribot auf jedwede solistische Grandezza. Ein herbstliches Album, nicht fürs große Publikum, sondern für die stille Kemenate. Sven Sorgenfrey (14.11.2010)

Label: PI Recordings

Jazz Passengers: Reunited

JassPassengersReunitedSie tun es wieder! Nach 13 Jahren gibt es wieder ein Album und eine Tournee der Hofnarren des Jazz. Weder haben sie etwas verlernt, noch sind sie altersmilde geworden. Sie mischen immer noch mehr Stile und Zitate, als der landläufige Fan identifizieren kann, zu einem hintergründig-intelligenten Neuen zusammen – in immer überraschenden, durchdachten Arrangements. Es gibt viel Platz für freie Improvisationen über obligaten, mal mit-, mal gegeneinander laufenden Motiven. Es gibt abrupte Brüche, harsche Taktwechsel, Passagen, die wie Fremdkörper wirken, tonnenweise Selbstironie – ein fein geplantes zappaeskes Scheinchaos. Mit dabei sind jede Menge Stargäste, unter anderem die wunderbare Deborah Harry, Elvis Costello und Marc Ribot, alle drei alte Weggefährten der Passengers. Sven Sorgenfrey (7.11.2010)

Label: Yellowbird, Enja/Edel Kultur

Steve Coleman: Harvesting Semblances and Affinities

SteveColemanHarvestingMan kann Steve Coleman nicht vorwerfen, er schmisse sich mit plattem Kuscheljazz an sein Publikum ran. Der Saxofonist, Komponist und Bandleader will mit diesem Konzeptalbum zeitliche Eindrücke musikalisch umsetzen. Mit seiner legendären Band „Five Elements“ knüpft er komplexe Bedeutungs- und Klanggewebe, schafft stetig changierende puzzleartige Strukturen in Melodik, Harmonik, Rhythmus und Aufbau. Die Sängerin Jen Shyu dient dabei als emotional anrührende Verdauungshilfe der durchaus kühl-intellektuellen und sperrigen Musik. Shyu agiert dabei genauso uneitel und ensembledienlich wie die renommierten Mitmusiker. Trotzdem muss man genau hinhören, damit sich die Qualitäten der Songs erschließen. Spätestens jedoch nach dem dritten Durchlauf macht dieses Album süchtig. Sven Sorgenfrey (29.8.2010)

Label: PI Recordings/Alive

Joo Kraus: Songs From Neverland

JooKrausNeverlandDer Trompeter Joo Kraus und das Tales-In-Tones- Trio versuchen sich an den Songs von Michael Jackson. Mit akustischen Instrumenten verschieben sie die Titel in vollkommen testosteronfreie Sphären: Die Musik plätschert harmlos vor sich hin. Das klingt prima laid back – aber auch gähnend langweilig, wie eine stylisch-unverfängliche Klangtapete für schicke Einrichtungsgeschäfte. Die Melodien werden meist einfach nur nachgespielt. Das funktioniert bei den Strophen fast nie, denn die Trompete muss nun einmal nicht die Silben des Textes auf einzelne Töne verteilen wie Jacksons Gesang. Die Chance, die Stücke in Jazz zu übersetzen – und improvisierend nachzuforschen was sie wirklich hergeben – wird vertan. Einzig „Blame It To The Boogie“ und „The Way You Make Me Feel“ deuten dieses Potenzial an. Sven Sorgenfrey (22.8.2010)

Label: Content

Raphael Wressnig: Party Factor

Raphael Wressnig - Party FactorMan sieht es dem Cover an: Feiern ist knochenharte Arbeit, zumindest für die Jungs in der Kapelle. Der österreichische Organist Raphael Wressnig begann die Suche nach dem heiligen Groove in seiner Pubertät. Mit unermüdlichem Eifer tourt er als Sideman einer Unzahl von Blues-, Soul-, Jazz- und Funkmusikern über den Globus, um hinter das Geheimnis der magischen Partyformel zu gelangen. Wie weit er dabei gekommen ist, zeigt seine Party-Factor-Band, in der sich neben einer formidablen Rhythmusgruppe jede Menge Blech um seine Hammond B3 schart. Die Musik ist ungeheuer funky, aber auch tiefgründig, schwarz, leicht, elegant und bemerkenswert humorvoll: Mit erfrischender Ironie parodiert Wressnig historische Lowlights der Schweineorgelmusik und wendet sie ins Geniale. Sven Sorgenfrey (8.8.2010)

Label: BHM

Eric Vloeimans Gatecrash: Heavansabove

VloeimansHeavensaboveEin großes Herz hat der niederländische Trompeter Eric Vloeimans, darin haben viele Stile Platz, die er seinem Personalstil unterwirft. Das Spektrum reicht von Hardbop, Mainstream Fusion, Rock, Funk, spanischen und orientalischen Anklängen bis hin zu melodieseligem Pop. Auf diesem breiten Terrain bereitet er seine eigenwilligen Kompositionen, von denen die schnellen grandios, zupackend und mitreißend sind. Für die langsamen braucht auch der Zuhörer ein großes Herz, denn hier will Vloeimans Geschichten erzählen, die er teils selbst noch nicht kennt. Wenn er sich mit seinem Keyboarder Jeroen van Vliet im Atmosphärischen verläuft, können Schlagzeuger Jasper van Hutten und Bassist Gulli Gudmundsson sie häufig wieder auf den rechten Weg führen. Das gelingt aber leider nicht immer. Sven Sorgenfrey (18.7.2010)

Label: Challenge

John Scofield: 54

JohnScofield54Der orthodoxe Jazzkenner ist ja gern äußerst skeptisch, wenn es um große Besetzungen geht. Die Musiker selbst freuen sich meist, wenn sie mal mit mehr als vier Leuten auf der Bühne stehen dürfen. So auch John Scofield, der schon auf seinem Album „Quiet“ mit Bläsersätzen experimentierte. Mit dem Metropole Orchestra, arrangiert von Vince Mendoza, wagt Scofield den Sprung in symphonische Sphären. Seine Kompositionen halten orchestralen Wohlklang aus, behalten ihren charakteristischen Witz und gewinnen durch Mendozas Arrangements sogar noch eine Dimension hinzu. Droht das Orchester ins Happy-End-Filmmusikhafte abzugleiten, bricht Mendoza ab und lässt Scofield – mal vergrübelt, mal verspielt, mal virtuos aber immer in feinster Spiellaune – die Grenzen des Themas ausloten. Sven Sorgenfrey (13.6.2010)

Label: Emarcy

Biografie John Scofield

Danny Bryant: Just As I Am

DannyBryantJustAsIAmDie großen Gitarrenhelden sind von der Bühne fast verschwunden: Sie werden von Luftgitarrenhelden nur schlecht ersetzt. In dieses Vakuum stößt Danny Bryant. Mit gerade mal 29 Jahren legt der Walter-Trout-Zögling schon sein siebtes Album vor: Musik wie eine Garagenband in den späten 70ern, mit dem Unterschied, dass Bryant singen (wie Gary Moore) und Gitarre spielen kann (wie Clapton, Albert Collins, Albert King). Seine Zutaten sind bratende Akkorde, eingängige Riffs, Melodien zum Mitsingen, schier uferloses Gitarrengegniedel und die unverfälschte Attitüde schwerstpubertierender Rockergören. Mutig weicht er Klischees weder musikalisch noch in den Liedtexten aus – das ist wundervoll authentisch. Unbedingt live und weder allein noch völlig nüchtern anhören! Sven Sorgenfrey (14.3.2010)

Label: Continental Blue Heaven

Sauer, Wollny, Kühn: IF (BLUE) THEN (BLUE)

SauerWollnyKuehnBlueEin halbes Jahrhundert nach "Kind of Blue" huldigt Heinz Sauer dem wegweisenden Album von Miles Davis – mit einer eigenwilligen Versuchsanordnung: In wechselnden Duos mit den Pianisten Michael Wollny und Joachim Kühn. Durchaus reizvoll ist das Zusammenprallen der grundverschiedenen Charaktere. Sauer gibt den eigenwilligen, altersweisen Klangzauberer, Wollny den experimentierfreudigen Genreverächter, Kühn den zwischen aufbrausendem Temperament und Innigkeit hin- und hergerissenen Heißsporn. Es sind kurze, skizzenhafte Stücke, in denen die Musiker das Terrain erkunden, stark fokussiert auf das eigentümliche Wesen des zugrunde liegenden musikalischen Materials. Dem Zuhörer verschlägt's den Atem, was den dreien dabei so nebenbei alles einfällt. Sven Sorgenfrey (11.1.2010)

Label: ACT

Meeting Point: Quintessence

MeetingPointQuintessenceManchmal drängt sich der Eindruck auf, dass jeder, der als innovativ gelten möchte, harmonische Anleihen in der Mongolei macht, melodische Inspiration beim Klezmer sucht, während er, kontrapunktisch tief in der Renaissance verwurzelt, zu hämmernden Technobeats nach korsischem Liedgut auf einer elektronisch verfremdeten Okarina improvisiert. Meeting Point verweigern sich derlei Eskapismus. Das Quintett spielt erfrischend geradlinigen traditionellen Jazz – mit der gebotenen Ernsthaftigkeit, aber leicht, mit virtuosen Improvisationen, aber uneitel, intellektuell anspruchsvoll, aber emotional dicht. Das erinnert gelegentlich an das Zusammenspiel von Wayne Shorter, Freddie Hubbard und Cedar Walton. Und wenn man ganz genau hinhört, erkennt man die russischen Wurzeln des Pianisten. Sven Sorgenfrey (23.11.2009)

Label: Challenge

Magnus vom Bauernhof

MagnusFraGardenZwischentöne sind seine Sache nicht: Aus brachialen Bläserriffs, sägender Gitarre, hämmerndem Schlagzeug, Pogo, Punk, Freejazz und einem Schuss Leningrad Cowboys braut der dänische Biobauer Magnus Bak mit seinen Kumpels ein hochenergetisches Gemisch. Was sich zunächst anhört wie eine Heavy-Metal-Band und eine Zirkuskapelle unter dem Einfluss verschreibungspflichtiger Substanzen, ist bei genauerem Hinhören ganz schön komplex – respektlos, selbstironisch und hinreißend humorvoll. Genau der richtige Soundtrack, wenn man mal wieder für ein paar Tage zum Pastinakensortieren aufs Feld abkommandiert worden ist. "100 Prozent Ökojazz aus Bodenhaltung" steht auf dem Cover – exzessiver Gebrauch von Stromgitarren verhagelt Magnus aber am Ende die CO2-Bilanz. Sven Sorgenfrey (9.11.2009)

Label: Calibrated

John Abercrombie Quartet: Wait Till You See Her

John Abercrombie Quartet - Wait Till You See HerWährend andere Jazzmusiker mit den unterschiedlichsten Besetzungen, Stilen und äußeren Einflüssen experimentieren, bleibt John Abercrombie seiner Spielweise treu. Seit zehn Jahren steht das Quartett mit Mark Feldmann an der Violine und Joey Baron im Zentrum seiner Arbeit. Und das zahlt sich aus: In unfehlbarem Verständnis untereinander kultiviert das Quartett ein ungeheuer dichtes kammermusikalisches Ensemblespiel und freie Improvisationen, die in all ihrer Vertracktheit leicht und eingängig wirken. Kaum jemand spielt so sauber Gitarre wie Abercrombie, dessen Soli souverän auf jede Virtuositätshuberei verzichten. Mit ihrer nachdenklichen Stimmung und dem kristallklaren, warmen Gitarrenklang spendet diese Musik Trost – nicht nur an verregneten Herbsttagen. Sven Sorgenfrey (5.10.2009)

Label: ECM

The Nuskin: Oldnu

The Nuskin - OldnuDas Projekt Nuskin des Spaniers Carlos Cárcamo will Jazzmusik aus der Ecke des verschwurbelten Intellektualismus holen, sie mit modernen Sounds auffrischen und ihre Tanzbarkeit in den Vordergrund stellen. Weil es beim Tanzen auch um den "Komm, sie spielen unser Lied"-Effekt geht, bedient er sich Evergreens wie "All Blues", "Perdido", "At Last" oder "Fever", die von Alejandra Barella mit ihrem süßesten Mädchenstimmchen dargeboten und von Rap-Einlagen flankiert werden. Die Arrangements sind vielschichtig, die Stücke nehmen neue Wendungen, bekommen andere Farben. Die alten Songs vertragen die Soundeffekte prima, zumal diese sie nicht überlagern, sondern sinnvoll ergänzen – kurzum: Wo andere nur die Pose des Jazz imitieren, treffen Nuskin dessen Haltung. Sven Sorgenfrey (14.9.2009)

Label: Nuba-Records