Musik wie eine Fata Morgana: Man glaubt die säuselnden heißen Winde auf der Haut zu spüren, die mit dem trockenen Wüstensand spielen und ihn in schmalen Fontänen zum Himmel steigen lassen. Chip Wickham komponierte die Titel für sein zweites Album „Shamal Wind“ am Persischen Golf – genau genommen in Doha. Dort, in der Hauptstsadt von Katar, herrscht meistens Wüstenklima. Die Temperatur steigt auf mehr als 50 Grad, sogar im Winter wird es nie kälter als 20 Grad.
Für mehrere Monate besuchte der Saxophonist und Flötist aus dem kalten England, der seit Jahrzehnten zum Inner Circle der Manchester-Jazzszene gehört, die arabische Halbinsel. Kann man sich einen größeren Kontrast zwischen zwei Orten vorstellen? Auf der einen Seite die verrußte und trübe Industriemetropole im Nordwesten Englands und auf der anderen Seite der sonnendurchflutete Wüstenstaat? Nein. Doch Manchester war anscheinend eine Art Katalysator für dieses ausgereifte, begeisternde Album.
Anders als auf Wickhams Frühwerken (diverse Singles, die von den megatanzbaren Sounds der Manchester-Rave-Szene geprägt wurden) stehen nicht mehr danceflooraffine Funkrhythmen im Vordergrund. Jetzt werden die Arrangements von orchestralen Klangteppichen dominiert, in denen Saxophon und Querflöte mit dem Vibraphon um die Wette tanzen. Dass dieser Vollblutjazzer mit so unterschiedlichen Musikern wie Nightmares On Wax und Roy Ayers zusammenarbeitete, hat sein rhythmisches Fundament verbreitert,.ihn aber nie in die musikalische Beliebigkeit abdriften lassen.
Klar, auch auf Album Nummer Zwei (es wurde wie der Vorgänger „La Sombra“ in Madrid aufgenommen), sind Wickhams große Vorbilder Yusef Lateef and Sahib Shihab deutlich erkennbar. Faszinierende, fast magische Querflötenklänge flattern wie Flaschengeister aus „!000 und einer Nacht“ durch die sparsam hingeworfenen Harmonietupfer der Band. Aber auch satte Orchesterklänge gehören zum Repertoire.
Vom titelgebenden Opener, der auch den Soundtrack eines Wüstenfiilms einleiten könnte über das treibend-modale. „Snake Eyes“ mit seinen – wie Wirbelwinde durch die Harmonien tobenden – Flöten- und Vibraphon-Soli klingt hier alles wie aus einem Guss. Sogar das Modern-Jazz-angehauchte superkurze „Soho-Strut“ oder das geheimnisvoll zerdehnte„ The Mirage“ passen sich in die homogene Konzeptstruktur ein. Bis hin zum eilig-hektischen 6/8-Takt bei „Barrio 71“ und dem eher kommerziellen „Rebel No. 23“ präsentiert dieser wandlungsfähige Virtuose ein Meisterwerk an harmonischer Geschlossenheit.
Funktionale Sound-Teppiche oszillieren zwischen orchestral wirkenden Passagen aus traditionellen Jazz-Harmonien und funkigen Querflöten-Figuren: ein faszinierendes meist straightes aber immer wieder sich an tonale Brüche herantastendes Kompositions-Konglomerat. Obwohl man sich ständig an Evergreen-Melodiebögen erinnert fühlt, fügen sich die Solisten (meistens Wickham) aber auch der phantasievoll-filigrane Pianist Phil Wilkinson oder der Modern-Jazz-geprägte Vibraphonist Ton Risco mit ihren perlenden Akkord-Sturzbächen und halsbrecherischen Ton-Achterbahnen traumhaft sicher in die melodisch klaren Harmoniestrukturen ein.
Also – hier gibt es nur eins: kaufen, streamen, klauen – was auch immer. Dieses Album sollte in keiner guten Jazz-Sammlung fehlen. Willy Theobald
Foto: PR
Label: Lovemonk
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