Nils Landgren (©ACT/Sebastian Schmidt)

Nils Landgren: „Ich lasse lieber die Musik für mich und sich selbst sprechen“

Alter Schwede! Wenn Nils Landgren mit seiner Funk Unit aufkreuzt, ist eines garantiert: Was sie spielen fährt mächtig in die Beine. Tanzfreudiger als der Ausnahme-Posaunist spielt kaum ein anderer Jazzer auf – ohne dass sich der Bläser damit auf diese eine Spielart des Rhythm’n’Blues festlegen würde. Dafür hat der Mann in seinen mittlerweile 57 Lebensjahren dann doch auf zu vielen Hochzeiten getanzt. Christoph Forsthoff hat den polyglotten Musiker mit der „Licence to Funk“ zum Interview getroffen.

Stilistisch haben Sie sich eigentlich nie festlegen wollen – doch wer Ihre Alben über die Jahrzehnte Revue passieren lässt bis hin zum aktuellen „Teamwork“, der gewinnt den Eindruck, als habe Sie der Funk nie wirklich losgelassen…
Nils Landgren: …das stimmt – ich bin nun mal mit dieser Art von Musik aufgewachsen. Das mag komisch klingen, ein Schwede, der sich seit jeher mit Funk beschäftigt, aber es ist wirklich so: Ich wollte schon immer diese Musik spielen. Als ich erstmals Funk bewusst wahrgenommen habe, war ich 15 und machte mit meinem Bruder in Paris Urlaub: Wir liefen an einem Plattengeschäft im Viertel Montparnasse vorbei und aus dem Land tönte Musik heraus…

…lassen Sie mich raten: Funkmusik…
Landgren:…oh ja: ein unglaublich tolles Posaunen-Solo! Ich musste da unbedingt rein und obwohl ich kein Wort Französisch konnte, haben wir herausgefunden, dass es sich um Fred Wesley and the J.B.s handelte. Ich habe die Platte gekauft und sie zuhause völlig kaputt gespielt. Seither war ich infiziert: Ich musste diese Musik einfach selbst spielen.

Nun sind Sie ja dennoch immer offen gewesen für andere Stile, sei es nun der Blues oder die melodietrunkene Folklore Ihrer nordischen Heimat, die Sie gemeinsam mit Esbjörn Svensson in den Jazz skandinavischer Prägung eingebracht haben. Worin liegt für Sie der Hauptunterschied zwischen dem Funk und Jazz?
Landgren: Funk hat einen fast statischen Rhythmus, es herrscht eine Voodoo-mäßige Atmosphäre – oder anders formuliert: Funk-Songs sind meistens Körper-Musik, während der Jazz heute eher vom Kopf und Intellekt her kommt. Bei uns geht es um Musik, die sofort im Körper spürbar ist: Um die Lust, sich zu bewegen und wohl zu fühlen. Doch darüber hinaus gibt es natürlich sehr wohl Gemeinsamkeiten: Beide Musikformen stammen vom Blues ab und swingen, auch wir improvisieren viel, und insofern sind in unserer Musik auch zahlreiche Jazzelemente enthalten.

Stichwort Körper- und Kopfmusik: In der Jazzszene hat über Jahre ein heftiger Streit zwischen Alter und Neuer Welt getobt über die Entwicklung des Jazz. Die Europäer haben den Amerikanern Rückständigkeit vorgehalten, die wiederum mit dem Saxophonisten Wynton Marsalis an der Spitze nennen die europäischen Neuerungen bis heute „Bullshit“. Haben Sie diese Diskussionen nachvollziehen können?
Landgren: Unabhängig von allen Inhalten sollten wir eines nie vergessen: Ohne die Musik aus den USA gäbe es bei uns überhaupt keinen Jazz oder improvisierte Musik. Doch darüber hinaus ist es letztlich die Entscheidung eines jeden einzelnen, was und wie er es spielt. Und da habe ich meine Wahl getroffen: Auf der einen Seite bedeutet das Funk Unit, andererseits aber eben auch Experimentelles. Natürlich kann man darüber ewig diskutieren, aber ich lasse lieber die Musik für mich und sich selbst sprechen.

Trotzdem möchte ich noch einmal nachhaken: Wynton Marsalis warf insbesondere einigen skandinavischen Kollegen vor, sie betrieben lediglich „esthetic namedropping“, ohne wirklich Jazz zu spielen – darf Jazz nicht weiterentwickelt werden?
Landgren: Ich verstehe Wynton Marsalis ja, wenn er sagt, der Jazz sei eine schwarze Musikform und er seine Mission darin sieht, diese zu bewahren. Das soll er machen – ich selbst sehe aber keinen Sinn, in diese Diskussion einzusteigen: Mich interessiert die Musik. Und da bin ich offen für alle Richtungen, die es heute gibt – man kann von jeder Bewegung profitieren, sei es nun in positiver oder negativer Hinsicht. Ich habe mich immer über all diese Grenzen hinaus bewegt und dieses Recht behalte ich mir auch weiterhin vor. Denn ich muss keine Tradition bewahren – es ist nicht meine Tradition.

Würden Sie denn der These zustimmen, dass ob dieser Traditionswahrung der Jazz aus den USA keine neuen Impulse mehr bekommt, sondern die eigentliche Entwicklung mittlerweile in Europa stattfindet?
Landgren: Mag sein, dass die neue Musik aus Europa kommt: Neu insofern, als dass diese Musik neue Wege im Umgang mit unserer Tradition sucht. In den USA hingegen gibt es eine andere Tradition – doch auch aus dieser entwickeln sich neue Sachen. Also, Entwicklungen gibt es überall – vieles hängt einfach auch davon ab, ob man mit offenen Augen durch die Welt.

A propos Entwicklung: Sie sind bis heute der einzige Posaunist, der ein rot gefärbtes Horn spielt…
Landgren: …seit 1985! Damals sahen alle Instrumente gleich aus, und ich wollte einfach eine andersfarbige Posaune haben. Allerdings wäre ich nie auf die Idee geworden, dass es einmal zu meinem Markenzeichen werden könnte. Doch solange ich meine Posaune gut beherrsche, finde ich es okay, dass ich auch vom Äußeren her eine eigene Farbe habe.

Nun erhält der Jazz ja auch musikalisch aus Schweden, Norwegen und Finnland reichlich neue Farben – woher rührt es, dass ausgerechnet aus Skandinavien so viel Innovatives kommt?
Landgren: In der Tat gibt es eine wahnsinnig große Menge neuer und spannender Musik aus Skandinavien. Vor allem die Norweger sind da sehr eigensinnig und mutig, versuchen alles zu mischen und mit allem zu spielen, egal ob nun Free Jazz oder Techno – man trifft sich und macht gemeinsam Musik. Und da dies immer auch vor dem Hintergrund der norwegischen Volksmusik-Tradition geschieht, gewinnt diese Musik einfach einen Tonfall, der anders klingt als etwa in Deutschland oder Frankreich…

…aber worin liegt dieser eigene Ton?
Landgren: Skandinavische Volksmusik hat seit jeher von der Improvisation gelebt. Es war Musik zum Arbeiten, zum Feiern oder zum Tanzen – die Musik hatte immer einen Zweck. Und da die Musiker oft ziemlich lang aufspielten, mussten sie zwangsläufig lernen zu improvisieren, sonst hätten sie sich allzu rasch wiederholt. Diese Improvisationskunst hat sich dann über die Jahrhunderte weiter entwickelt.

In der Kunst der Improvisation liegt also das Geheimnis der eigenen skandinavischen Note?
Landgren: Nun, zugleich sind die skandinavischen Musiker über die Grenzen ihrer Länder hinaus gewandert, so dass es schon sehr früh einen Austausch über Stile, Variationen und Improvisationen gab. Was ja übrigens im Mittel- und Südeuropa der Renaissance- und Barockzeit nicht anders war: Bach etwa hat seine Werke keineswegs immer in der gleichen Art gespielt – vielmehr waren Wiederholungen ja dafür da, um die Werke zu entwickeln, um zu improvisieren und Neues zu entdecken. Erst später hat sich die Klassik dann zu der festen, einen Form entwickelt, die heute in den Noten steht.
Bei uns in Skandinavien indes ist die Tradition der Improvisation in der Volksmusik immer lebendig geblieben – und heute ist es sogar wieder angesagt, Volksmusik zu spielen.

Liegt hierin im Umkehrschluss auch ein Grund, dass Klassik es heute so schwer hat und von vielen Menschen als „alte Musik“ abgetan wird?
Landgren: Klassik hat mehr denn je den Ruf, elitär zu sein – in Skandinavien sprechen wir von A-Musik, wohingegen wir Jazzer B-Musik spielen. Es geht darum, eine Musikform zu bewahren – vielleicht ähnelt dies ein wenig den Gedanken von Wynton Marsalis. Klassik ist eine konservierte Musik – weshalb ich eben auch improvisierte Musik vorziehe, denn diese gibt mir eine Freiheit, die ich in der Klassik nicht habe.

Anders als im Jazz hat es in der Klassik grad die zeitgenössische Musik sehr schwer – fehlt dem Klassikpublikum die nötige Offenheit?
Landgren: Wie lange hat es gedauert, bis Strawinsky in gewisser Weise zum Allgemeingut geworden ist? Unsere Ohren und musikalischen Sensoren sind nun mal sehr eingeschränkt, was natürlich auch an der musikalischen Ausbildung und dem mangelhaften Musikunterricht in den Schulen liegt. Und da der in vielen Ländern immer weiter abgebaut wird, wird auch die Möglichkeit für junge Leute, etwas Neues zu lernen, zunehmend eingeschränkt.

Klingt nicht grad danach, als seien Sie sehr optimistisch hinsichtlich des Stellenwertes von Musik in der westlichen Gesellschaft.
Landgren: Wenn unsere Gesellschaft keine Lust mehr hat, eine musikalische Basis zu schaffen, um jungen wie älteren Menschen die Chance zu geben, sich mehr mit Musik zu beschäftigen, dann erwächst daraus schon bald ein Riesen-Problem. Dabei wissen alle, wie wichtig Musik für die Menschen ist, ja, dass Musik sogar aus therapeutischer Sicht oft das beste Heilmittel ist. Deshalb brauchen wir einfach mehr Unterstützung vom Staat wie der Gesellschaft, um unsere Musik weiter entwickeln und auch ein größeres Publikum gewinnen zu können.

Sie wie auch viele anderer Ihrer nordischen Musikerkollegen haben auch ohne diese Unterstützung ein großes Publikum gewonnen – sind in Skandinavien vielleicht die Ohren des Publikums einfach offener für Neues?
Landgren: Ich hatte das Glück, mir mein Publikum seit 1997 mit immer neuen Projekten kontinuierlich aufbauen zu können – und wie viele andere Kollegen auch, habe ich für Jazz-Verhältnisse wahnsinnig viele Alben verkauft. Eigentlich unglaublich angesichts der insgesamt eher negativen Entwicklung in der Musikindustrie, doch zeigt dies eben auch: Es gibt ein zunehmendes Interesse von Menschen, sich unsere Musik anzuhören. Ich habe immer meine musikalischen Visionen ausdrücken wollen – und für alle, die so denken, sehe ich auch künftig ein großes Potenzial, ihr Publikum zu erweitern.

(Das Interview führte Christoph Forsthoff. Alle Rechte vorbehalten.)

Nils Landgren Funk Unit: Teamwork (CD-Tipp)