ENDLICH! Ein Fan von R&B-Sternchen Macy Gray und ihrer wunderbar rauchigen Stimme bin ich seit dem ersten Album. Leider präsentierte die Ex-Backup-Sängerin der Black Eyed Peas meistens Songs, die ihr großes Können widerspiegelten – mich aber emotional nie wirklich überzeugten. Parallel spielte sie in TV-Serien, in Filmen – zeigte, dass sie auch auf mehreren Hochzeiten tanzen kann. Das war ebenfalls gediegenes Kunsthandwerk, aber immer noch nichts, was einen vom Hocker haut. Mit „Stripped“ ist es nun anders: Ich bin schwer begeistert! Musik, die mich eiskalt erwischt, mitreißt und auch Wochen nach dem Erstkontakt immer wieder aus meinen Boxen flutet. Das Album ist bluesiger, jazziger als die letzten und drückt Pop-Elemente ganz weit in den Hintergrund.
Hat sich die mittlerweile 39-jährige Grammy-Preisträgerin mit dem kometenhaften Aufstieg endlich selbst gefunden? Ist sie in der richtigen Umlaufbahn am Musikhimmel angekommen? Kann man so sagen. Obwohl sie auf ihrem neunten Studioalbum sogar alte Hits von sich selbst recycelt und auf Coverversionen von Bob Marley oder Metallica zurückgreift, klingt hier alles ganz frisch, neu, intensiv – und vor allem jazzig!
Angeblich hat Macy Gray das Album in zwei Tagen mit einem Mikro und ganz wenigen Overdubs im One-Track-Verfahren in einer Brookliner Kirche eingespielt: Wenn das stimmt, hat sich diese archaische Attitüde (vulgo Retro-Marotte) megamäßig ausgezahlt.
Im Interview verriet die in Ohio geborene Sängerin, die mittlerweile sogar eine Akademie gegründet hat, sie sei immer Frank-Sinatra-, Nat-„King”-Cole- , Nancy-Wilson- und Nina-Simone–Fan gewesen. Bislang hatte sie das aber geschickt versteckt! Dass sie das Singen als Kind und Teenager durch das Hören von alten Jazzplatten gelernt habe, will man gerne glauben: An Billie Holiday hat ihre Stimme schon viele Rezensenten erinnert.
Schon der bluesige Opener „Annabelle“, zeigt programmatisch, wo es lang geht: Eine Art gezähmter Rauheit, die sich nicht nur in Grays Stimme, sondern auch in den Gitarrenlicks niederschlägt und immer wieder harmonische Spannung aufblitzen lässt.
„Sweet Baby“, das zweite Stück, überzeugt mehr durch hingetupfte Gitarrenakkorde und ein im Hintergrund irrlichterndes Trompetensolo als durch den Gesang – wirkt aber überzeugend hingerotzt.
Einer meiner Favoriten ist Song Nummer vier: „Slowly“. Fast anrührend klingt dieses kleine unscheinbare Stückchen Musik, das perfekt soulpoppig ‚rüberkommt – wie eine Fingerübung mit filigranen, kleinen Miniaturen, die bei jedem Hören wieder neues entdecken lassen.
Auch „First Time“ – aus der Abteilung Lovesongs über große Probleme, die wir nie hatten („Give me one more chance for the first time“ Geht das überhaupt?) – klingt mit seiner hingehaucht gequälten Schmalzigkeit wie ein echtes musikalisches Kleinod.
Der letzte Song „Lucy“ (wie der Opener ein Frauenname) ist ein richtiger Abräumer. Im Hintergrund zirkulieren verhaltene Gitarrenakkorde, die sich immer wiederholen und eine Art Rhythmus vorgeben, den das Schlagzeug stoisch bedient. Großes Soultheater mit allen Klischees („You make love to me“ etc.) – aber richtig klasse.
Die handverlesene Band verfügt mit Ari Hoenigs akzentuiertem, aber zurückhaltendem Schlagzeugspiel, und Daryl Johns funktionalem Bass über eine extrem wirkungsvolle Rhythmusgruppe. Trompeter Wallace Roney gibt den Arrangements mit seinen Miles-Davis-lastigen Cool-Jazz-Soli etwas Entrücktes. Russell Malones Gitarrenspiel – irgendwo zwischen den Frühwerken von George Benson und Wes Montgomery – verleiht den schlichten Arrangements einen warmen Retro-Touch.
Also: Für alle Jazzfans mit Blues- und Soul-Affinität ist dieses unprätentiöse Album ein Muss. Es präsentiert nicht nur begeisternde Musik perfekt arrangiert, sondern auch Macy Grays Stimme rau und ungeschminkt: exakt im Spannungsfeld zwischen kontrolliertem Höhenflug und freiem Fall. Die Band besteht aus Spitzenmusikern, die in ihrer funktionalen und inspirierten Spielweise nur eine Aufgabe kennen: die Songideen so geschlossen und relaxt wie möglich zu unterstützen. Wunderschön, schlicht und trotzdem mitten ins Herz treffend! Kaufen, streamen, klauen wie auch immer: Muss man haben!
Willy Theobald
Foto: PR
Label: Chesky Records
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