Natürlich, die Frage musste ja kommen. Viktoria Tolstoy lacht. „Wir sind einfach gut.“ So einfach ist das mit dem Geheimnis des skandinavischen Jazz’. Rigmor Gustafsson, Silje Nergaard, Rebekka Bakken, Caecilie Norby – die Liste der erfolgreichen Chanteusen aus dem melancholischen Norden ist lang. Und die der männlichen Kollegen noch länger: Nils Landgren, Lars Danielsson, Jan Lundgren, Ulf Wakenius, Bugge Wesseltoft – die dafür aber längst nicht so hübsch sind. Eine Anmerkung, die die blonde Frau mit den langen Beinen und den noch längeren Haaren dann doch ein wenig in Verlegenheit bringt – und sich im Interview mit Christoph Forsthoff um eine seriöse Erklärung bemühen lässt.
Viktoria Tolstoy: Vielleicht ist es diese Klarheit in unserem Jazz, diese schlichten, einfachen Melodien, die zwischen den Noten noch Luft für Freiräume und Gedanken lassen. Ich liebe diese Freiheit im Jazz, denn solche Pausen sind oft sehr viel wichtiger als die Noten.
Nutzen Sie selbst denn während des Singens auch diese Freiräume, um etwa über die Gestaltung nachzudenken?
Tolstoy: Nein, ich denke beim Singen niemals darüber nach, wie ich einen Song von der Stimmfarbe her charakterisieren könnte – das geht bei mir immer über das Gefühl im unmittelbaren Moment.
Derselbe Song klingt also bei Ihnen niemals gleich?
Tolstoy: Ja, es kann mal laut und aggressiv, mal sanft und verhalten klingen: Es ist immer eine Frage des Temperaments und des Moments.
Eine Variabilität, die ja auch charakteristisch ist für die Stile Ihrer Titel.
Tolstoy: Ich habe immer Probleme gehabt, einen einzigen Stil zu finden, denn ich mag die Vielfalt. Es wäre schwierig für mich, ein Album zu machen, das nur eine Art von Songs enthielte – etwa nur Blues oder Balladen – denn ich würde mich dort nicht repräsentiert fühlen. Ich habe einfach nicht diesen einen, speziellen Stil, denn ich möchte so viel – manchmal vielleicht zu viel. Das kann natürlich auch ein Problem sein (lacht)…
…nun, zumindest auf Ihrem vorletzten Album „Letters to Herbie“ klang dieser Farbmix aus Funk und Soul, Pop und klassischen Balladen sehr reizvoll – pflegen Sie eigentlich wirklich eine Brieffreundschaft mit Herbie Hancock, wie der Titel vermuten ließ?
Tolstoy (lacht): Nein, natürlich nicht – auch wenn ich ihn inzwischen sogar schon einmal zum Abendessen getroffen habe. Doch ich habe mich seit meiner Jugend für seine Wanderungen zwischen den Stilen begeistert; und er ist einfach ein unglaublich freundlicher und humorvoller Mensch.
Da lag und liegt der Gedanke an eine Hommage natürlich nahe – und doch ist die attraktive Skandinavierin sich und ihrem soften Vocal-Jazz treu geblieben in den feinfühligen arrangierten Kompositionen aus verschiedenen Schaffensperioden des Meisters, haucht mit ihrem warmen, ausdrucksstarken Timbre jedem Song seine (oder vielmehr ihre) eigene Seele ein. Wie auch bei ihrem letzten Album „My Russian Soul“.
Tolstoy: Jazz ist eine Musik fürs Herz – der Verstand hat damit nichts zu tun. Das Zusammenspiel zwischen mir und meinen Musikern lässt sich eigentlich nur mit einem Liebesakt vergleichen.
Dabei galt Jazz einst als Musik rauchgeschwängerter Clubs, wo reichlich Alkohol floss – alles andere als ein Ort für Liebesbekundungen. Heute ist der Jazz zunehmend in Konzerthäusern zuhause: ein Imagewandel in Ihrem Sinne?
Tolstoy: Ich habe in den vergangenen Jahren mehr in Konzerthallen als in Jazz Clubs gespielt wie noch zu meinen Anfangszeiten. Aber ich mag beides: Gerade in den kleinen Clubs, wenn die Leute fast auf der Bühne sitzen und man jeden sehen kann – das unterscheidet sich total von einem großen Saal, wo ich niemanden mehr wirklich erkennen kann. In einem kleinen Club ist es schon sehr viel entspannter und auch einfacher für mich, zwischen den Songs etwas zu erzählen.
Verändert sich die Seele des Jazz mit solch einem Wechsel der Örtlichkeit?
Tolstoy: Das könnte schon sein. In einem kleinen Club ist es auf jeden Fall einfacher zu improvisieren als in einem großen Opernhaus – dort hast du wegen der Atmosphäre eine ganz andere Rolle. Auf einer kleineren Bühne hingegen ist einfach meine Freiheit viel größer, man wagt mehr und hat auch nicht diesen Respekt (lacht)…
Und wie gehen Sie mit diesem Respekt in einem Opern- oder Konzerthaus um?
Tolstoy: Es braucht meistens ein oder zwei Songs, dann bin ich auch dort wieder zuhause. Entscheidend ist immer der Beginn, wo ich das Eis zwischen Bühne und Publikum brechen muss: Wenn sie dann lachen, habe ich gewonnen. Aber das ist eben auch sehr unterschiedlich und kann auch schon mal länger dauern.
Sicher auch, weil Jazz nach wie vor eher eine Musik für einen kleineren Kreis von Menschen ist – anders als etwa Rock- und Popmusik. Haben Sie sich in Ihrer Jugend auch für Rock und Pop begeistern können?
Tolstoy: Ich habe alles gehört! Sehr viel Heavy Metal wie Metallica, aber auch Pop- und Rockmusik von Sting, den Beatles oder Chaka Khan. Jazz hingegen nicht ganz so viel, manchmal Miles Davies oder Billy Holiday, aber mehr Pop und Soul wie Titel von Marvin Gaye oder Aretha Franklin.
Und wann haben Sie sich dann verstärkt dem Jazz zugewandt?
Tolstoy: Jazz ist in meinem Leben eigentlich immer da gewesen. Als ich anfangs in einer Soul-Band gesungen habe, habe ich nebenher mit meinem Vater zuhause Jazz gespielt – aber wirklich entschieden für den Jazz habe ich mich, als ich mit 19 meinen ersten Vertrag bekam und ein reines Jazz Album aufnehmen sollte. Natürlich habe ich weiterhin auch mit meiner Soul Band gearbeitet, aber je bekannter ich wurde, desto schwieriger wurden diese Ausflüge, denn natürlich haben die Leute dann zunehmend Jazzmusik von mir erwartet.
Fans der klassischen Jazz-Schule pflegen gern das Image von Jazz als einer ganz besonderen Musik, die ob dieser Besonderheit einfach nicht erfolgreich sein könne, ja dürfe. Kann guter Jazz auch erfolgreich sein?
Tolstoy: Aber natürlich – spätestens seit e.s.t. wissen wir, dass Jazz erfolgreich sein und dennoch weit mehr als normale Popacts bieten kann. Das hat natürlich viel damit zu tun, wie das Management arbeitet und die Plattenfirma, doch Jazz hat heute die große Chance, den gleichen Erfolgsstatus zu erreichen wie ein Pop-Act.
Aber verkauft der Jazz mit einem Erfolg im Popstil nicht einen Teil seiner Club-Seele?
Tolstoy: Nein – nicht, solange ich auf der Bühne machen kann, was ich will. Und solange das Publikum kommt, mache ich musikalisch auch, was ich will: Für manchen bringt das vielleicht sogar die Erfahrung mit sich, einmal den reinen Jazz kennenzulernen.
Nicht zuletzt mit Blick auf die Einflüsse, die in den letzten zwei Jahrzehnten aus Skandinavien gekommen sind: Hat sich die einst strikte Trennung zwischen Pop und Jazz überlebt?
Tolstoy: Für mich hängt vieles mit der Einstellung zusammen, mit der man einen Song angeht, und inwieweit man sich erlaubt, mit dem musikalischen Material zu spielen. Wenn wir die Songliste für ein Konzert zusammenstellen, weiß ich oft nicht, wie wir einen Titel anfangen oder auch beenden werden – ich mag es einfach, überrascht zu werden. Und so spielen wir niemals einen Song auf die gleiche Art und Weise. Doch auch bei einem Popsong kann ich viel improvisieren: Von daher würde ich schon sagen, dass die einst klaren Grenzen zwischen Pop und Jazz sich zunehmend auflösen.
@ Christoph Forsthoff. Alle Rechte vorbehalten