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Michael Wollny: Nachtfahrten

Michael Wollny ©Act/Jörg Steinmetz

Michael Wollny ©Act/Jörg Steinmetz

Und nun? Was mache ich jetzt? Soll ich ebenfalls einstimmen in die Lobeshymnen, die unisono über Michael Wollnys neues Album ausgegossen werden? Oder finde ich wenigstens ein paar klitzekleine Mäusekegel mit denen ich meine Fähigkeiten als solider Kritiker und notorischer Nörgler unter Beweis stellen kann?

Nö! Geht nicht! „Nachtfahrten“ ist einfach ein zu gutes Album, das für kleingeistige Quengeleien noch nicht mal den Hauch einer Angriffsfläche bietet. Klar – an ein paar Nuancen herummäkeln kann man immer. Aber das wird dieser außergewöhnlichen und fast makellosen CD nie und nimmer gerecht. Hier ist die Gratwanderung zwischen eigenem Ton, Stil etc. und innovativen Klangstrukturen reibungslos gelungen. Ein Album wie aus einem Rausch: kraftvoll, dynamisch aber meistens sanft und manchmal auch verspielt – bis hin zur tieftraurigen Melancholie. ……

Zwielicht, Dämmerung, Morgengrauen – das sind Begriffe die das Schaffen des in Schweinfurt geborenen Pianisten in den letzten Jahren am besten beschreiben. Von seinem „Hexentanz“ (2007) bis zu einem live präsentierten Soundtrack zu Friedrich Wilhelm Murnaus Stummfilm „Nosferatu“ hat sich der seit fast einem Jahrzehnt immer wieder hochdekorierte Musiker nie als Fürst der Finsternis feiern lassen aber oft als Magier des Undurchsichtigen stilisiert. Vielleicht trug auch die Geburt seines ersten Sohnes vor eineinhalb Jahren dazu bei; jedenfalls hat sich Wollny – mittlerweile Musik-Professor in Leipzig – trotz aller musikalischen düsteren Vexierbilder nicht zum Hades-Apostel oder gar dumpfen Gothic-Grufti entwickelt
Am Anfang des neuen Albums stand das Buch „Nachtmeerfahrten“ der Kulturwissenschaftlerin Simone Stölzel – ein essayistisches Konglomerat von Seelenfinsternissen, Gespenstern, Wahnsinn und Weltenbrand in der Romantik, bei Wollny wurde daraus „Nachtfahrten“. Hinzu kamen eine Anthologie von Schauergeschichten, die Peter Handke in den 70er-Jahren zusammengestellt hatte – und der Besuch einer Ausstellung über Schwarze Romantik im Frankfurter Städel-Museum.

Aufgenommen hat der 37-jährige Pianist das Album mit seinem langjährigen Miststreiter, dem Schlagzeuger Eric Schaefer, und dem Bassisten Christian Weber und innerhalb von 48 Stunden in einem abgedunkelten Studio. Doch der Opener ist nicht wirklich düster, sondern eher elegisch! Ein Stück Filmmusik: Angelo Badalementis „Questions in a World of Blue“ aus „Twin Peaks“ von David Lynch. „Ich wollte neonfarbene Nocturnes, machen. Stücke, die leuchten, die Kraft haben“, erklärt Wollny. Von „vergifteten Dur-Akkorden“ fabuliert er. „Dur ist frei nach Hindemith der reinste Werkstoff, den man benutzen kann“, legt er dann noch nach, „wenn man da Dissonanzen einstreut, dann ist das wie Rauschgift – das macht süchtig, man muss es immer wieder hören.“

14, zwischen zwei- bis vierminütige, Stücke fügen sich nahtlos zu einer Art Konzeptalbum zusammen, dessen organische und harmonische Konsistenz auch nach mehrmaligem Hören immer noch grell glimmende Funken sprüht. Verblüffend einfach die Bauform der meisten Kompositionen (sieben stammen von Wollny und seiner Band) – vom Hörgenuss jedoch bieten sie ein Maximum an Brillanz und Abwechslungsreichtum.

Ob das nun noch Jazz ist, Avantgarde, Neo-Klassik, Kunstmusik oder Musikkunst – ich weiß es nicht, will es auch gar nicht wissen. Jede einzelne Note, jeder Trommelschlag, jedes Beckensäuseln, jede Bassfigur wirkt als hätten diese Elemente nur genau dahin und nirgend wo anders hin gepasst. Dass Wollny immer wieder bei seinen persönlichen Superstars Keith Jarrett und Brad Mehldau wildert ist nur ein Beleg seiner absoluten Geschmacksicherheit: Dieses merkwürdige aber absolut geschlossen wirkende Durcheinander wirkt wie ein Geniestreich aus Talent, Intuition, Sensibilität und effektivster Technik. Produziert hat ACT-Labelchef Siggi Loch höchst persönlich!

Meistens lässt Wollny ein paar Töne aus seinem Flügel flattern, die wie Poe‘sche Raben („Metzengerstein“) durch den Äther taumeln, Schaefer grundiert sie sparsam mit einfachsten aber extrem unorthodoxen manchmal schwebenden sich überlagernden Patterns, Webers Basslinien leben vom Weglassen. Unruhiger wird das Album ab Stück Nummer drei: „Der Wanderer“. Fast schon hektisch wirkt Komposition Nummer vier „Motette No.1“ – dann erreicht Wollny mit Nummer fünf „White Moon“ wieder ruhigeres Fahrwasser. Jede Komposition ist ein flamboyantes Kunstwerk, manchmal zerbrechlich, manchmal kraftstrotzend aber immer sensibel, ausdruckstark und ungewöhnlich akzentuiert.
Alleine das Titelstück, das den schaurig schönen Reigen beschließt, geht so heftig unter die Haut, dass nur noch wohliger Schüttelfrost bleibt. Langsamer als die No-Noise-Band Swans in ihren langsamsten Zeiten, düsterer als die Industrial-Avantgardisten Throbbing Christle und trotzdem verspielter als Jacques Loussier – wow! Aber: Rezensenten-Gebrabbel stört nur bei einem solchen Musik-Meilenstein: Begeisterung, Gänsehaut, Dankbarkeit – so schön, so gewaltig so hemmungslos destruktiv und gleichzeitig aufbauend kann Musik sein: Chapeau!!!
Willy Theobald

Fotos: Act/Jörg Steinmetz
Label: Act

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