Viele Jazzmusiker nennen J.S. Bach als Lieblingskomponisten. Gemeint ist damit vor allem dessen Wohltemperiertes Klavier. Es ist das Grundgesetz der europäischen Musik. Und einige Stücke daraus sind aufgeschriebene – und nachträglich in Form gebrachte – Improvisationen Bachs.
Auch für den klassischen Pianisten Friedrich Gulda war das Wohltemperiertes Klavier die geordnete Basis, von der aus er seine – von der klassischen Musikszene mit einer Mischung aus Bewunderung und Entsetzen bestaunten – Abenteuer in der Welt der improvisierten Musik starten konnte. Bei Gulda kommt Beethoven vor Bach, das ist unüberhörbar. (Das Wohltemperierte Klavier spielte er 1972/73 ein, den Zyklus der Beethoven-Sonaten etwa zur gleichen Zeit 1968/73). Guldas Beschäftigung mit Jazz hatte wiederum Rückwirkungen auf seine Bach-Interpretation. Und auch das hört man hier: Die Stücke liefern das musikalische Material, mit dem der Meister aus Wien dann spielen kann.
Gulda galt der klassischen Musikszene als Rebell: Er bricht mit der Kleiderordnung, mit auf Jahre im Voraus festgelegten, ja überhaupt festgelegten Konzertprogrammen, er spielt das Klavichord, und das auch noch – Gott sei bei uns! – elektrisch verstärkt (wie die Stimme seiner späten Partnerin Ursula Anders), Gulda rennt unbekleidet auf die Bühne, um dort mit seinem Krummhorn herumzufuchteln.
Doch gerade als Rebell ist Gulda ist ein Kind seiner Zeit, das wird einem beim Wiederhören der mittlerweile 42 Jahre alten Aufnahmen klar. Es war die Zeit des Aufbegehrens, es war en vogue, nackt auf Bühnen herumzuspringen, auf Konventionen zu pfeifen und „die Bourgeoisie“ aus ihrer selbstgefälligen Lethargie und Beschränktheit zu reißen. Es war okay, die Pubertät bis ins hohe Alter zu verlängern.
Andererseits galt Gulda als Genie, technisch unfehlbar, furios, nüchtern, eigensinnig, unangepasst; er spielte alles, wirklich alles auswendig. (Es geht die Legende, dass er für Brahms 2. Klavierkonzert nur knappe drei Tage brauchte, um es zu lernen.)
Wenn Gulda – untypisch für Gulda, untypisch für eine Studioaufnahme – mal eine Passage verschlunzt, eine Phrasierung nicht durchhält, ein Stück fast mechanisch durchklappert, ein anderes durch exzessiven Pedalgebrauch verwischt, wenn er mal ein provokant schnelles, mal ein provokant langsames Tempo wählt, dann hat das immer mit der Rebellenattitüde Guldas zu. Und es ist oft lehrreich. Nur ein Beispiel: Muss ich immer eine einmal gewählte Phrasierung eines Patterns bis zum Ende durchhalten? Oder rücke ich andere Aspekte der Musik in den Vordergrund, wenn ich die Kantigkeit der Phrasierung an einem bestimmten Punkt glätte?
Ich bin mit Guldas Wohltemperierten Klavier aufgewachsen. Was mich an den LPs des Zyklus immer gestört hat, ist deren technische Unzulänglichkeit: Das Rauschen über den leisen Passagen, das Zerren und Klirren bei den lauten. Die nun vorliegenden CDs sind eine Offenbarung: Guldas Flügel hat einen sehr direkten Klang, und ist sehr, sehr fein und transparent abgemischt (Gulda spielte die Stücke live gern auf dem Klavichord). Die Ausstattung der CD-Box ist – auch das ist eine Seltenheit – prunkvoll mit Goldschnitt, opulentem Begleittext und liebevoll gestalteten Einsteckhüllen.
Sven Sorgenfrey
Fotos: PR/Hasenfratz